6 . H E S S I S C H E R K U LT U R - U N D K R E AT I V W I R T S C H A F T S B E R I C H T Der Beat des Zeitgeschehens Gastbeitrag von Klaus Walter Die Ermordung von Martin Luther King am 4. April 1968 löst eine Welle friedlicher und ge- waltsamer Proteste aus. In dieser aufgeheizten Stimmung soll James Brown, einer der größten afroamerikanischen Popstars des Augenblicks, ein Konzert in Boston geben. Die Veranstalter wollen die Show absagen, sie befürchten neue Unruhen. James Brown ist dagegen. Sein Biograf James McBride: »Nicht nur, dass er das Konzert nicht abgesagt hat, es wurde sogar live im Fernsehen übertragen, eine gute Idee, ansonsten hätte Boston gebrannt.« »Say it loud – I’m black and I’m proud« Polit-Pop heute Ausgerechnet James Brown, der Sänger von »Say it loud – I’m black and I’m proud«, der Hymne auf den Schwarzen1 Stolz, verhindert einen gewaltsamen Aufstand. Brown beruhigt seine Schwarzen Fans mit einer Rede. Er erzählt von seiner Kindheit als Schuhputzer in Georgia, der eigentlich keine Chance hatte, es aber trotzdem geschafft hat. »Den Kids in der Schule erzähle ich immer: bleibt in der Schule, seid keine Dropouts, sonst werdet ihr nichts. Ausbildung ist alles, bildet euch, qualifiziert euch!« Es folgt die Geschichte vom Shoe Shine Boy James, der vor einer Radiostation Schuhe putzt für ein paar Cent. Und dem später genau diese Radiostation gehört. »That’s Black Power!«, sagt James Brown. Wenn man etwas erreicht im Leben, und zwar nicht mit Gewalt. Einfach seinen Mann zu stehen, das ist seine Botschaft in dieser brisanten Situation nach dem Mord an Martin Luther King. Die Lage droht zu eskalieren, das Pulverfass droht zu explodieren und James Brown fleht: »Lasst uns für unser Land leben, lasst uns für uns selbst leben!« Er endet mit dem Appell: »Please go off the street!« Runter von der Straße, bitte! Mit dieser Rede hat James Brown möglicherweise eine Kata- strophe verhindert, das Konzert findet statt, die Leute sind runter von der Straße. Der »Godfather Of Soul« handelt wie ein verant- wortungsvoller Staatsbürger, der seinen Einfluss nutzt, um eine Demonstration von Black Power zu verhindern, die mehr mit der Militanz der Black Panthers zu tun hat als mit Browns eigenem Erfolgsmärchen vom Black Capitalism. Aber: Hat James Brown mit diesem Akt der Deeskalation nicht auch das Anliegen seiner Schwarzen Landsleute verraten? Ihren gerechten Zorn kanalisiert? 140 Die Ermordung von George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai 2020 löst eine Welle friedlicher und gewaltsamer Pro- teste aus. Flankiert und unterstützt werden die Demonstrationen von Solidaritätsbekundungen und künstlerischen Interventionen aus der Pop-Kultur. Beyoncé fordert in einem Video »Justice for George Floyd«, Spike Lee dreht einen Kurzfilm über rassistische Polizeigewalt, Alicia Keys verurteilt selbige in einem neuen Song, auch Kamasi Washington, der Darling des neuen Jazz-Establish- ments, meldet sich zu Wort. Kaum ein Hip-Hop-Act in den USA, der keinen Song zum Thema parat hätte. In Atlanta hält der Rapper, der sich Killer Mike nennt, eine hochemotionale Rede bei einer Protestkundgebung. Killer Mike ist eine Hälfte des Polit- Hip-Hop-Duos Run The Jewels und begreift sich mehr als Killer des gesprochenen Worts denn als killender Gangster. Schon 2015 unterstützte er die Kampagne von Bernie Sanders, was drollige Bilder mit sich brachte von einem sehr großen, sehr kräftigen, sehr runden Schwarzen Mann um die dreißig und einem schmächtigen, leicht klapprigen alten weißen Mann, der nicht so recht zu wissen schien, was er mit diesem Killer an seiner Seite anfangen soll, von dem seine Berater ihm einflüsterten, der habe Einfluss auf Schwarze Wähler. 1 Die Schreibweise orientiert sich an der Empfehlung von der Web- plattform »Kubinaut – Navigation Kulturelle Bildung«. Demnach beschreiben die Wörter weiß und Schwarz nicht die Hautfarbe oder andere phänotypische Merkmale, sondern die sozialen Positionen in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft. Die Schreibweise der Wörter soll dies anzeigen. So wird Schwarz großgeschrie- ben, um das widerständige Potenzial hervorzuheben. Um den Konstruktionscharakter der Kategorie »weiß« zu verdeutlichen, wird diese kursiv und – im Gegensatz zur politischen Selbstbezeichnung »Schwarz« – kleingeschrieben.